Die folgenden Überlegungen erwuchsen anfangs aus meiner Arbeit als Psychotherapeut. Im Umgang mit leidenden Menschen ist die zentrale Frage naturgemäß die, was sie leiden lässt, das heißt vor allem, was sie dazu bringt, so schlecht mit sich umzugehen, aber auch, was andere dazu gebracht hat, so schlecht mit ihnen umzugehen. Ich hatte zunehmend Probleme damit, dass dieses Schlechte, von dem sich die Menschen u.a. in Psychotherapien zu befreien versuchen, in ihnen selbst seine Ursache haben sollte. Bzw. in anderen Menschen, die dann logischerweise als „böse“ klassifiziert werden müssen, zumindest dann, wenn man die Verursacherkette zurückverfolgt bis zu „Adam und Eva“.
In dieser Zeit stieß ich auf das Buch einer Kollegin, die die Theorie aufstellte, dass es für die Behandlung von bestimmten psychischen Leiden hilfreich sei, davon auszugehen, dass diese Patienten von einer nicht von ihnen selbst ausgehenden, autonom wirkenden destruktiven Kraft angegriffen werden. (Ingrid Baumert: Das Selbst ist der Weg. Verlag: Die blaue Eule, Bochum.) Ich empfand diese Theorie für meine Arbeit als sehr hilfreich und sie hat mein Denken entscheidend verändert, wofür ich sehr dankbar bin. Das Nachfolgende hat sich aus meiner Auseinandersetzung mit dieser Theorie entwickelt, bzw. aus deren Ausweitung auf andere Lebensbereiche.
Das Böse
Mit dem Bösen meine ich die destruktiven Kräfte, die das Leben einschränken und schädigen: Zum einen die subtile oder brachiale Gewalt, die das Leben eines anderen Menschen schädigt und zerstört (Mobbing, Mord, Krieg etc.), zum anderen die destruktiven Gedanken, Gefühle und Handlungen, die das eigene Leben einschränken und schädigen bis hin zum Suizid (das, was wir als psychische Probleme und Erkrankungen bezeichnen) und schliesslich die Zerstörung der Lebensgrundlagen, die das Leben allgemein schädigt (Umweltzerstörung).
Die entscheidende Frage
Für den Umgang mit dieser Destruktivität ist meines Erachtens die alles entscheidende Frage, ob wir sie für einen Teil des Menschen halten oder für eine von ihm unabhängige Kraft. Ist es ein Teil der menschlichen Natur destruktiv zu sein oder werden Menschen dazu gebracht es zu sein?
Die Frage, warum wir nicht aufhören können, unsere Umwelt, also unsere Lebensgrundlagen zu zerstören, und die Frage warum wir nicht friedlich miteinander leben können obwohl genug für alle da ist, sondern einander Gewalt antun bis hin zur Gefahr der totalen Vernichtung mit immer gefährlicheren Waffen, werden immer mehr zu Fragen des Überlebens der Menschheit.
Aber auch im zwischenmenschlichen und im psychischen Bereich (der beeinflusst ist von den globalen Problemen) stellen sich drängende Fragen zu Gewalt und Destruktivität, z.B. warum die Zahl der Amokläufe zunimmt, oder was die Ursache der „Volksseuche Depression“ und der Zunahme der Zahl weiterer psychischer Erkrankungen ist, die das Leben so vieler Menschen einschränken und stark schädigen.
Es ist also dringend nötig zu klären, was Menschen gegen andere und gegen sich selbst zerstörerisch fühlen, denken und handeln lässt, was also das Destruktive, das Böse ist und wie wir damit umgehen wollen.
Das Böse als Erbe unserer Herkunft?
Im Allgemeinen gehen wir davon aus, dass das Destruktive ein Teil des Menschen ist, dass Menschen eben auch eine „dunkle Seite“ haben, die sie bestenfalls kontrollieren können. Vielfach wird auf unsere Herkunft aus dem Tierreich verwiesen, wo es ja auch Aggression gebe, die zum Überlebenskampf und zur natürlichen Auslese nötig sei. M.E. verlässt aber an dieser Stelle das Denken die Logik im Dienste der Rechtfertigung des Bösen. Denn Tiere sind nicht destruktiv: Sie planen und führen keinen Krieg, begehen keinen Mord und keinen Völkermord, sie foltern nicht und die zerstören auch nicht wider besseres Wissen ihre Lebensgrundlagen. Es ist also sicher nicht der tierische Selbsterhaltungstrieb im Dienste der Evolution, der uns in den Abgrund treibt. Das Böse im Menschen entstammt einer anderen Dimension als die Aggression der Tiere. Zudem käme niemand auf die Idee, bei positiven Leistungen der Menschheit ständig auf Wurzeln in der tierischen Vergangenheit zu verweisen, also Oper und Quantentheorie mit den Eigenschaften von Affen oder Mäusen zu begründen – warum es also bei anderen menschlichen „Errungenschaften“ wie Krieg tun? Ich finde es zumindest nicht hilfreich, wenn mit dem Verweis auf die tierische Aggression die Destruktivität zu etwas essentiell Menschlichem erklärt und damit als etwas Natürliches gerechtfertigt wird. Wäre nicht gerade der umgekehrte Sachverhalt naheliegend, dass wir als vernunftbegabte und im Sinne der Evolution viel weiter entwickelte Wesen, die sich mit Philosophie und Heilkunst beschäftigen, mit dem Negativen viel besser umgehen können, als die Tiere?
Appelle und Drohungen helfen nicht
Ausgehend von der Sichtweise des Destruktiven als Teil der menschlichen Natur bleibt angesichts der Bedrohungen, die wir allenthalben erleben, nur, an die Vernunft der Menschen zu appellieren und sie dazu zu bringen, ihre negativen Seiten zu kontrollieren: Sie sollen ihre Aggression beherrschen, die Politik des „Auge um Auge“ überwinden und friedlich bleiben, die Gier zügeln, umweltschädlichen Konsum beenden, nationale Interessen zurück stellen, um das „Zwei-Grad-Ziel“ bei der Erderwärmung politisch zu ermöglichen usw.
Aber es ist völlig offensichtlich, dass trotz aller Appelle die Destruktivität weitergeht. Trotz der Existenz von immer mehr Umweltschutzorganisationen und -aktivitäten steigt die menschengemachte Umweltzerstörung weiter an. Und die Gefahr einer Zerstörung zumindest großer Teile der Erde und der Menschheit durch immer zerstörerischere Waffen in den Händen von immer mehr, sich immer unversöhnlicher gebärdenden Gruppen wächst weiter, trotz UN, NGOs und Friedensbewegungen. Und auch wenn Historiker sagen, die Menschheit sei im Laufe ihrer Geschichte, gemessen am Anteil der Gewaltopfer an der Bevölkerung, friedlicher geworden, so ist doch auch klar, dass die Qualität der destruktiven Mittel viel gefährlichere Dimensionen erreicht hat. Es nützt wenig, wenn es bezogen auf die Bevölkerungszahl zwar heute weniger Kriege und Gewaltopfer gibt als im Mittelalter, wenn die Menschheit an den Folgen eines einzigen Atomschlages oder an der selbst gemachten Umweltzerstörung zugrunde geht.
Appelle und Verweise auf historische Entwicklungen bewirken nicht, dass die Gewalt aufhört und die Gefahr abnimmt. Aber auch Drohungen helfen ganz offensichtlich nicht gegen fremd- und selbstschädigendes Verhalten. So haben auch alle Horrorszenarien über die Folgen der Umweltschädigung durch Menschen deren destruktives Handeln nicht verändert. Und selbst die persönlich erfahrenen Auswirkungen von Hochwasser- und Sturmkatastrophen, deren Zusammenhang mit dem Klimawandel für die Klimaforscher als erwiesen gilt, führen zu keiner Verhaltensänderung bei den Betroffenen. Es ist vollkommen klar, dass der ökologische Fußabdruck gerade auch der Mitglieder der „Wohlstandsgesellschaften“ noch weiter wächst, daran haben alle „fünf vor-Zwölf“- Drohungen nichts geändert. Mittlerweile gibt es bei vielen Menschen bereits eine defätistische „fünf nach Zwölf – eh schon wurscht“-Haltung.
Auch im Bereich der zwischenmenschlichen Destruktivität helfen Appelle und Drohungen offensichtlich nicht, nicht einmal die Schlimmste: Keine Studie konnte belegen, dass die Einführung der Todesstrafe zu einer Senkung der Zahl der Kapitalverbrechen geführt hat.
Und auch psychische Leiden können nicht mit Drohungen und Appellen an die Vernunft gebessert werden, sie verlagern sich dadurch allenfalls auf andere Symptome. Psychotherapie ist wirkungslos, wenn der behandelte Mensch nicht lernt, dass er das Recht hat, sich gegen destruktive Gedanken und Gefühle zu wehren, also seinen (Selbst-)Wert wieder erkennt.
Wir brauchen ein anderes Verständnis der Destruktivität
Wenn Appelle an die Vernunft und Sanktionen nicht fruchten, und wir weiter auf einen Abgrund zu rasen, dann ist es meines Erachtens sinnvoll, das Wesen der Destruktivität grundsätzlich zu überdenken.
Ich denke, dass wir uns nicht gegen uns selbst wehren können und auch nicht einen Teil von uns selbst dauerhaft unterdrücken können. Wenn also die Destruktivität eine Folge der aus dem Tierreich mitgebrachten Aggression ist und damit ein Teil des Menschen, dann können wir sie nicht bekämpfen ohne uns selbst damit Gewalt anzutun. Aber im Grunde wissen wir, dass Destruktivität durch Einflüsse von außen entsteht. Es gibt keinen Gewalttäter, der nicht selbst Gewalt erfahren hätte, in der Regel schon in der Kindheit. Bei genauer Betrachtung kann man sehen, dass jede destruktive Handlung durch destruktive Erlebnisse des Handelnden bedingt ist. Aber wir nutzen dieses Wissen nicht. Wir tun das vielleicht noch bei uns selbst, denn in der Regel wissen wir, warum wir andere beleidigen oder ihnen Schlimmeres antun und rechtfertigen das auch damit: weil der andere mir zuerst etwas angetan hat, oder weil ich einen schlechten Tag hatte, von anderen Ereignissen gestresst bin und deshalb „die Nerven blank liegen“ usw.
Aber wir verfolgen den Gedanken der Verursachung des Schlechten durch äußere Einflüsse nicht konsequent weiter, denken ihn nicht zu Ende. Denn in den meisten Fällen von Gewalt und Destruktivität fragen wir einfach nach dem Schuldigen. Wer ist schuld? Das heißt im Klartext: Wer ist der Böse? Wir teilen damit die Menschen in Gute und Böse ein, in brave Bürger und Verbrecher. Wie inkonsequent das ist, zeigt sich daran, dass die Bösen in anderen Situationen schnell zu den Guten gezählt werden und umgekehrt. Wer kann von sich behaupten, nie etwas Böses getan zu haben? Und welcher Verbrecher hat nie etwas Gutes getan. Um es an einem extremen Beispiel zu verdeutlichen: Es ist klar, dass die Erklärung „Hitler und die Nazis (also ein Großteil der Deutschen) waren böse Menschen“ für die Zerstörung und das Leiden, das durch sie ausgelöst wurde, nicht ausreicht. Die Deutschen waren ja vor, während und nach der Nazizeit nicht jeweils andere Menschen.
Und auch im Bereich der innerpsychischen Destruktivität ist der Betroffene kein böser Mensch, der sich selbst angreift. Auch hier findet man in der Geschichte des Betroffenen mehr oder weniger subtile Traumata: Es macht keinen Sinn zu jemand mit Depressionen, Ängsten, Selbstwertproblemen oder Selbstverletzungs- und Suizidimpulsen zu sagen: „Das ist der böse Teil von dir, der dich angreift.“ Wenn das Böse ein Teil des Menschen wäre, könnten wir es niemals ablehnen. Wir würden damit uns selbst ablehnen und das macht logischerweise keinen Sinn. Wir wüssten noch nicht einmal, ob nicht der Versuch etwas zu verbessern, wieder von diesem Teil gesteuert wäre. Und jede Psychotherapie wäre sinnlos, da sie eine Heilung von etwas anstrebt, das ich selbst bin. Und ebenso sinnlos wäre jeder Versuch, Täter – seien es Einzelne oder Kollektive – zum Positiven verändern zu wollen, da das Böse ja Teil dieser Menschen wäre und nicht einfach „weggemacht“ werden kann. Nicht einmal die „Heiler“ selbst könnten sicher sein, dass ihr Handeln nicht letztlich von etwas Bösem, das sie selbst sind, gesteuert wird. Wir könnten noch nicht einmal zwischen gut und böse unterscheiden, da wir auch dabei nie sicher sein könnten, von welchem Teil die Einschätzung ausgeht. Dass wir das sehr wohl können, zeigt der Satz: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem Andern zu“ oder, etwas komplexer, Kants Kategorischer Imperativ. Wir wissen immer, wann etwas destruktiv ist, wir können es allenfalls als Reflex auf etwas, das uns geschädigt hat, rechtfertigen, oder damit, dass es Schlimmeres verhüten soll, beschönigen.
Wenn wir also bei allen Menschen mit selbst- und fremddestruktiven Gefühlen, Gedanken und Handlungen destruktive Einflüsse auf diese selbst in der Vorgeschichte finden – dann kann man natürlich die „Täter“ dieser Vorgeschichte, (z.B. die vernachlässigenden Eltern) als die Schuldigen ausmachen. Wenn aber deren Destruktivität wiederum aufgrund von auf sie ausgeübten negativen Einflüssen zustande kam, dann muss man sich, spätestens wenn man bei Adam und Eva angekommen ist, fragen, ob nicht vielleicht doch die Schlange schuld ist. (Tatsächlich denke ich – natürlich nicht, dass die Schlange das Böse ist aber –, dass in der Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies der zentrale Wirkmechanismus des Bösen beschrieben wird, dazu weiter unten mehr.)
Wenn man die Beobachtung, dass menschliche Destruktivität immer verursacht wird durch destruktive Einflüsse, denen der Betroffene ausgesetzt war, zu Ende denkt, dann macht es keinen Sinn mehr, den Betroffenen selbst als Ursache der von ihm ausgehenden Destruktivität zu betrachten, sowenig wie es Sinn macht, einen Grippe-Infizierten für die Ursache der Krankheit zu halten.
Das Böse als eigenständige Kraft, die Menschen „infiziert“
Ich weiß, dass das nach Religion und Esoterik klingt. Aber in Beidem wird, zumindest soweit ich es sehen kann, das Böse nie wirklich konsequent als vom Menschen getrennt gesehen. Es wird mit dem Teufel als dem Bösen gedroht, aber wenn ich nicht die Regeln des Systems befolge, dann kann ich sehr schnell selbst der Böse sein und bestraft oder ausgestoßen werden, etwa als „mit dem Teufel im Bunde“ oder zumindest zu schwach, um ihm zu widerstehen.
Mir geht es um eine Sichtweise, bei der der Mensch konsequent gut ist, wovon der Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ eine Ahnung vermittelt. In dieser Sichtweise ist auch die Würde (also der Wert) eines Schwerverbrechers immer gegeben. Das bedeutet, ich muss mit dem Phänomen des Verbrechens einen anderen Umgang finden, als die Bestrafung (und damit die Entwürdigung) des Täters. Da aber die Tat Ausdruck von etwas Destruktivem also Unerwünschtem ist, muss gefragt werden, was diesen Menschen dazu gebracht hat, destruktiv zu handeln und was getan werden muss, damit er damit aufhören kann. Es wird also bei destruktiven Phänomenen nicht mehr gefragt: Wer ist schuld? Sondern: Was muss geschehen, damit der Mensch, von dem die Destruktivität ausgeht, sich von dieser trennen kann und Abwehrkräfte gegen diese „Infektion“ entwickeln kann? Das bedeutet durchaus nicht, dass dann jeder machen kann, was er will, weil es keine Verantwortung und keine Sanktionen mehr gibt, wie dazu oft argumentiert wird. Es kann durchaus bedeuten, dass ein Mensch daran gehindert werden muss, weitere Taten zu begehen. Aber es bedeutet, diesen Menschen dabei nicht zu entwerten, also seine Würde nicht anzutasten. Und das wiederum kann nur gelingen, wenn ich diesen Menschen nicht mit seiner destruktiven Tat gleichsetze. Ich brauche also eine Vorstellung davon, dass dieser Mensch von etwas dazu gebracht wurde destruktiv zu sein. Diese Sichtweise hat auch den Vorteil, dass man im Umgang mit dem Bösen nicht resignieren muss, weil es in ihr keine bösen Menschen gibt, die dann zwangsläufig immer wieder Böses tun werden.
Destruktivität erzeugt Destruktivität
Gewalt und Destruktivität erhalten sich dadurch, dass auf die Menschen, die sie ausüben, ebenfalls mit Gewalt reagiert wird, weil sie für die Verursacher von Gewalt und Destruktivität gehalten werden (der infizierte Mensch wird mit dem Erreger verwechselt und bekämpft). Wenn auf Menschen, die Gewalt ausüben, mit Gewalt reagiert wird, wird das lebensfeindliche Prinzip der Gewalt aufrechterhalten und fortgeführt, weil auch aus dieser „gerechten“ Gewalt wieder Gegengewalt entsteht. Diese richtet sich dann ggf. gegen Dritte oder gegen die eigene Person, wenn eine direkte Reaktion z.B. aus Gründen der Übermacht oder der Nicht-Zuordenbarkeit des Verursachers nicht möglich ist. Aus diesem Grund werden Menschen, die durch das Strafverfolgungssystem entwertet und entsprechend behandelt werden, in der Regel nicht besser, sondern destruktiver – gegen andere und / oder gegen sich selbst.
Das gilt nicht nur in konkreten Situationen zwischen Anwesenden sondern sozusagen auch indirekt: Bei Amnesty International kann man lesen: „In Kanada ist beispielsweise die Rate der Tötungsdelikte seit Abschaffung der Todesstrafe stark zurückgegangen, während sie in den Vereinigten Staaten von Amerika in Bundesstaaten mit Todesstrafe auf viel höherem Niveau stagniert oder sogar zunimmt. Manches deutet sogar darauf hin, dass die Hemmschwelle für Kapitalverbrechen dort niedriger ist, wo der Staat im Namen des Rechts selbst töten lässt.“
Hier wird beschrieben, dass die simple, für uns alle im Alltag erfahrbare Tatsache, dass Destruktivität Destruktivität erzeugt, auch für die Beziehung zwischen Staat und Bürgern gilt. Und dass die Unterbrechung oder Abschwächung dieser reflexhaften Reaktion zur Verminderung von Destruktivität führt.
Zumindest in einigen Kulturen gibt es solche Sichtweisen des Destruktiven und einen entsprechenden Umgang damit. Darauf wurde ich durch die Krimis von Tony Hillerman aufmerksam, einem 2008 verstorbenen US-Autor, der als Autorität für die Kultur der Diné- und Hopi-Indianer galt, wie bei Wikipedia steht. Seine Romane spielen in der Navajo-Reservation, die Protagonisten sind zwei indianische Polizisten. Hillerman schildert darin immer wieder deren Konflikt zwischen der Sichtweise des US-Justiz-Systems, dem gemäß Straftäter entwürdigend behandelt werden (und dadurch oftmals weiter in die Kriminalität abrutschen), und der Sichtweise ihrer Herkunftskultur, wonach ein Mensch, der eine böse Tat begeht, von einem Geist besessen ist, der ihn aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließen will (und damit letztlich aus dem Leben), und entsprechend eine Zeremonie braucht, mit der er wieder in diese integriert wird. Und, so wie ich es verstehe, wird ihm durch deren Art und Aufwand große Wertschätzung vermittelt. Was auf die zentrale Rolle der Entwertung in der Destruktivität hinweist.
Das Werkzeug der Destruktivität ist Entwertung des Menschen
Die erste Voraussetzung dafür, dass ich auf Gewalt nicht mehr mit Gegengewalt reagiere, ist also die Erkenntnis, dass nicht der ausübende Mensch die eigentliche Ursache ist. Ich kann dann erkennen, dass meine durch die Gewalt ausgelösten Rache-Impulse Ausdruck einer Infektion mit einem lebensfeindlichen Prinzip sind, die nicht weitergegeben sondern überwunden werden sollte.
Aber selbst mit dieser Erkenntnis trifft uns Gewalt und Destruktivität an einer empfindlichen Stelle, an der wir normalerweise reflexhaft reagieren. Dies geschieht durch den zentralen Wirkmechanismus der Destruktivität, die Entwertung. Leiden-schaffende Gewalt und Ungerechtigkeit gegen Menschen kann erst dann ausgeübt werden, wenn vorher entwertet wurde. Das Opfer hat es verdient, es ist selbst schuld, es ist böse und / oder minderwertig usw. Die Ursache dieser Fremdentwertung ist die drohende Selbstentwertung: Das kann ich mir nicht gefallen lassen, sonst bin ich feige, oder: Ich muss meine Macht demonstrieren, um mich (wieder) wertvoll zu fühlen.
Kriege sind ein gutes Beispiel für die Entwertungsdynamik des Destruktiven: Ein Krieg gegen ein anderes Volk kann nur begonnen werden, wenn dieses vorher entwertet wird, sei es, indem man es zum Aggressor erklärt, oder in dem man es als etwas an sich Minderwertiges deklariert, das den eigenen, höherwertigen Zielen entgegensteht. Entsprechend wäre man selbst minderwertig, wenn man sich das bieten ließe etc. So wurden vor dem Genozid in Ruanda 1994 die Tutsi in der Hasspropaganda der Hutu-Extremisten monatelang als Kakerlaken diffamiert. Aktuell ist dieser Mechanismus sehr gut an Begriffen wie „Achse des Bösen“ oder „Schurkenstaaten“ und „Ungläubige“ und „dekadenter Westen“ zu beobachten.
Die Entwertung durch den Geist der Destruktivität findet prinzipiell in zwei Formen statt: gegen andere gerichtet (man wird aggressiv, d.h. zum Täter) oder gegen sich selbst gerichtet (man wird depressiv, d.h. zum Opfer). Also: Der andere ist minderwertig (böse, dumm, primitiv usw.), ich muss ihn bestrafen, kann ihn unterwerfen oder umbringen und muss es tun, um nicht selbst minderwertig zu sein. Oder aber: Ich bin minderwertig (böse, dumm, ein Versager usw.), ich darf geschädigt werden, muss bestraft werden, mir sollte es nicht gut gehen, ich sollte nicht da sein, sollte mich umbringen.
Dadurch, dass wir die Wertung von Menschen als legitim anerkennen, wird das lebensfeindliche Prinzip ständig neu erzeugt und fortgesetzt. Kein Mensch wird geboren und empfindet oder denkt „ich bin böse und minderwertig“. Jeder Mensch erlebt und betrachtet sich zunächst als gut. Es gibt keine bösen Kinder. Aber es gibt schon sehr früh wertende Einflüsse auf das Kind. Eltern und Bezugspersonen, die selbst in einem wertenden System aufwuchsen und leben, geben ihre erlittenen Entwertungen an das Kind weiter, oder vermitteln ihm zumindest, dass es besser sein muss als andere, weil es sonst weniger wert ist. Eine Entwertung durch mächtige Erwachsene – sei sie subtil oder in Form von roher Gewalt – erzeugt im Kind in der Regel zunächst immer eine Selbstentwertung, aus der, wenn sie nicht relativiert oder wieder gut gemacht wird, später entweder eine depressiv-selbstschädigende, oder aber eine aggressiv gegen andere gerichtete, entwertende Haltung wird.
In diesem Sinne entsteht Täterschaft im Sinne der Schädigung anderer immer aus einer Wendung einer erlittenen Entwertung nach außen: Ich muss den anderen schädigen, damit ich mich besser fühle als er, weil ich mich sonst von ihm entwertet fühle.
Aber auch Gewalt gegen das eigene Selbst in Form einer psychischen Störung hat diese verinnerlichte Entwertung zur Grundlage. So ist das Erleben in der Depression: „ich bin schuld und / oder weniger wert als andere“, in der Sucht: „ich brauche etwas, das mich aufwertet, zumindest mir bessere Gefühle macht“, im Drang zum Missbrauch: „ich brauche die Macht beim Sex, sonst bin ich schwach“ (entsprechend ist das Trauma des Missbrauchs beim Opfer „ich bin schlecht bzw. schwach, deshalb ist es mir passiert“) usf.
Wertung als Grundlage von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft
Weil Wertung die Grundlage der Destruktivität ist, ist die mittlerweile global verbreitete Sichtweise des Lebens als Konkurrenzkampf und Wettbewerb sozusagen die ideologische Absicherung des Bösen. In diesem Sinne ist das Prinzip der Wertung auch der Motor der Umweltzerstörung. Der größte Teil des umweltschädigenden Verhaltens findet auf der Basis der Wertung statt. De facto arbeitet mittlerweile fast jede Werbung mit Wertung, vom diesbezüglich offensichtlichen „Ich bin doch nicht blöd“ – Slogan bis zu den subtilen Botschaften der Mode-, Schönheits- und Gesundheitsindustrie, die uns klarmachen, dass der natürliche Prozess des Älterwerdens ein persönliches Versagen darstellt. Die Botschaften die uns immer und überall umgeben, lauten: „Es gibt Bessere und Schlechtere und die Schlechteren sind wertlos und werden ausgestoßen.“ Und: „Du bist, was du hast und du hast nie genug, denn es gibt andere, die mehr haben oder es zumindest darauf anlegen, Dich zu überholen. Du kannst keine Rücksicht nehmen und musst konsumieren.“
Auch wenn es weder die Politik noch die Wirtschaft noch die Krankenkassen sehen wollen (oder besser gesagt: können): Die „Volksseuche Depression“ und die „Burnout-Welle“ ist durch diesen Geist verursacht. Aber der ist entsprechend dem vom destruktiven Prinzip erzeugten Bild des Menschen als Konkurrenzkämpfer „alternativlos“, weil wir Wachstum brauchen und unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten müssen, um nicht von anderen („den Indern“) überholt zu werden usw. Wir können auf andere Menschen und uns selbst keine Rücksicht nehmen.
In diesem Sinne sind auch die scheinbar von der Entwertung anderer profiterenden Mächtigen, Kapitalisten usw. von der Angst vor Entwertung getrieben. Sie dürfen nicht zurück, es muß mehr werden, mehr Macht, mehr Kapital usw. Denn das beweist ja ihren Wert, der dadurch eben höher ist. Weniger Wachstum oder gar eine Verminderung von Besitz und Macht wird als Versagen und damit als Entwertung erlebt. Und die Ausgebeuteten und Entrechteten werden entwertet, denn sie haben es eben nicht geschafft und damit verdient, schlechter behandelt zu werden. Was treibt die Menschen, die laut Oxfam zu dem 1 Prozent der EuropäerInnen gehören, das mehr besitzt als 90 Prozent der anderen zusammen? Eine ihnen angeborene Gier? Oder eine „Infektion“ mit einer destruktiven Ideologie, die dabei ist auch ihre Lebensgrundlagen zu zerstören, die sie aber fälschlicherweise für einen Teil ihrer selbst halten? Solange diese „Infektion“ nicht erkannt wird, werden auch ihre GegnerInnen, die von diesen Menschen Entwerteten und Ausgebeuteten, den Infizierten mit dem Erreger verwecheln und in der Folge diese Menschen als Gierige, Raubtierkapitalisten usw. entwerten und bekämpfen, was die Entwertungsspirale weiterdreht. Denn Entwertung von Menschen erzeugt Gegenentwertung. Eine Entwertung zu akzeptieren bedeutet den drohenden Ausschluss aus der Gemeinschaft zu akzeptieren. Deshalb muß der Gegner selbst der Schlechte sein, der es wagt mich zu Unrecht zu kritisieren. Kritik kann ich erst dann akzeptieren, wenn damit nicht mehr meine Person entwertet wird sondern auf der Ebene der unangetasteten Würde aller Beteiligten über die Sache gesprochen wird.
Die Vertreibung aus dem Paradies und seine Rückgewinnung
Ich hatte oben gesagt, dass man, wenn man die Reihe der Verursacher von Leiden und daraus resultierender Destruktivität konsequent zurückverfolgt, irgendwann bei „Adam und Eva“ landet, und, wenn man auch die ersten Menschen nicht als essentiell böse betrachten will, bei der Schlange endet.
Tatsächlich sehe ich in der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies eine Bestätigung meiner Gedanken über die Rolle der Wertung als zentralem Mechanismus der Destruktivität. In diesem Mythos ist m.E. dargestellt, wie das Böse durch Wertung das Leiden in die Welt bringt.
Dort heißt es: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.“ Das ist also das Kennzeichen des Paradieses: Das Bewusstsein, dass man ein Abbild Gottes, d.h. etwas Wertvolles ist. Dann aber kommt das Böse (in Form der Schlange) und entwertet die Menschen indem es einfach behauptet, sie seien noch minderwertig und müssten erst noch perfekt werden, indem sie etwas Bestimmtes tun: Es sagt: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott.“ Adam und Eva lassen sich vom Bösen täuschen und so entwerten, indem sie diesem glauben, dass sie nicht bereits wie Gott sind. Damit ist das Paradies verloren und es folgt das bekannte Drama mit Scham, Minderwertigkeitsgefühlen und daraus resultierender Destruktivität. Als nächstes erzählt die Geschichte das Schicksal von Adams und Evas Kindern: Kain bringt seinen Bruder Abel um, weil er glaubt, im Vergleich zu diesem (in den Augen Gottes) minderwertig zu sein. Das ist also die Vertreibung aus dem Paradies: der Verlust des Bewusstseins des eigenen unabänderlichen Wertes, der „Gottgleichheit“; der Glaube, dieser Wert müsste erst erworben, erkämpft und verteidigt werden.
Daraus ergibt sich, dass nur das (Wieder-)Erkennen dieses unabdingbaren Wertes des Menschen, also der „unantastbaren Würde“, und die damit einhergehende Zurückweisung jeder Entwertung – durch welche Form der Destruktivität auch immer – dem Leiden ein Ende setzen und das Paradies zurückbringen kann.
Und das ist nach der Erkenntnis, dass das Destruktive eine vom Menschen unabhängige Kraft ist, die zweite Voraussetzung dafür, den Teufelskreis der Destruktivität durchbrechen zu können: Die Erkenntnis, dass ich als Mensch nicht zu entwerten bin. Menschen können leiden (körperliche und seelische Schmerzen haben), ohne dadurch selbst- oder fremddestruktiv zu werden, solange sie sich durch das Leiden nicht entwertet fühlen. Solange sie das Bewusstsein ihrer Würde noch haben, können Menschen viele Dinge aushalten, ohne destruktiv zu handeln oder zu fühlen, auch den Tod. Sobald aber das Leiden als Entwertung erlebt wird, wirkt es destruktiv. Wenn ich also weiß, dass meine Würde unantastbar ist, mein Wert immer gegeben ist (in meiner Sichtweise weil ich ein Teil des Lebens bin, das nichts Wertloses hervorbringt), dann brauche ich ihn nicht zu beweisen, indem ich andere entwerte und sie angreife, und ich brauche den Wert auch nicht „wiederherzustellen“ indem ich mich an denen räche, die mich entwerten wollten, indem sie mich angriffen.
Die Unterscheidung von Gut und Böse als Zurückweisung des Angriffs auf das Leben
„Und was ist dann diese böse Kraft, wenn sie nicht zum Menschen gehört?“ werde ich fast immer gefragt, wenn ich die geschilderten Ansichten vertrete. Ich sage dann oft scherzhaft: „der Teufel“, was meist Lachen auslöst. Tatsache ist, dass ich nicht weiß, was diese Kraft ist. Ich kann nur schildern was ich beobachte, nämlich dass Menschen sich einerseits als Opfer des Bösen erleben und andererseits sich selbst als die Bösen sehen und sich schuldig fühlen, als wären sie zwei Personen. Dieser Widerspruch führt zwangsläufig entweder zur Projektion des Bösen auf andere Menschen oder zu Verleugnung und Verdrängung oder zu Ohnmacht, Verzweiflung und Resignation. Letztere Haltung nimmt, speziell, was Kriege und Umweltzerstörung betrifft, in privaten und öffentlichen Meinungen zu: Menschen seien eben doch nicht so vernünftig und im Grunde egoistisch usw. Ein populärer Witz bringt das auf den Punkt: Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: „Wie gehts?“ Der andere antwortet: „Schlecht, ich leide unter Befall von Homo sapiens.“ Sagt der erste: „Keine Sorge, das hatte ich auch, das geht vorbei.“ Dieser Witz zeigt die Absurdität der Vorstellung, das Zerstörerische sei der Mensch selbst, in aller Klarheit: Ich habe die Fähigkeit, das Schlechte zu erkennen, und dadurch die Möglichkeit, es durch mein Handeln zu beenden, aber ich klage mich stattdessen selbst als das Schlechte an und befürworte die „Endlösung“ meiner Beseitigung.
Ich weiss nicht, was diese gegen das Leben gerichtete Kraft ist. Aber ich weiß auch nicht, was das Leben ist, von dem ich räumlich und zeitlich ein Teil bin. Ich habe mich nicht selbst hervorgebracht und kenne auch die Kraft nicht, die das getan hat. Aber es macht für mich keinen Sinn, dem was mich hervorgebracht hat zu misstrauen, das Leben schlecht zu finden und es anzugreifen wie mir diese Gegenkraft suggeriert. Mir scheint, dass es geradezu der Sinn des menschlichen Lebens ist, sich fortlaufend gegen diese Gegenkraft und für das Leben zu entscheiden, also Gut und Böse zu unterscheiden und danach zu handeln.